Seit 120 Jahren stets ein neues Vaterland 

Generation 1: Von Preußen zu Belgien

  • Meine Großmutter, 1896 geboren, hat bis zu ihrem 24. Lebensjahr zur preußischen Rheinprovinz gehört. Die Eifel galt als das "preußische Sibirien", ein karger Landstrich mit ärmlichen Verhältnissen. (von Clara Viebig in ihren naturalistischen Romanen trefflich beschrieben)

    Als Kind hatte sie in der Schule das Gedicht gelernt:
        • "Der  Kaiser ist ein lieber Mann,
          er wohnet in Berlin,
          und wär das nicht so weit von hier,
          ich ginge heut noch hin."
  • Mit 23 Jahren war sie schwanger, mit 24 Jahren brachte sie ihren Sohn, meinen Vater, zur Welt: einen Belgier, denn Oma war seit Januar 2020 belgisch geworden

  • Wenn Oma Anneliese in den Jahren meiner Kindheit und Jugend 1955-1970) von der Evakuierung im 2. Weltkrieg sprach, sagte sie immer noch: "dahinten, in Belgien", obschon sie schon ein halbes Jahrhundert lang Belgierin war.
    Ich glaube, sie ist nie wirklich in Belgien angekommen, schon wegen der Behörden, die nicht ihre Sprache sprachen. Sie fühlte sich als Mitglied einer Minderheit ohne wirkliche Rechte, die das akzeptieren musste, was von oben herab befohlen wurde.

  • Auswanderungen vor 1.WK nach Aachen Köln Ruhrgebiet >>> Verwandtschaft Grenze als Riss

Generation 2: vom belgischen zum deutschen Soldaten ... 

  • Mein Vater, 1920 geboren, wurde mit 19 Jahren, also 1939 zur belgischen Armee eingezogen. Anfang Mai 1940 bekam er Diensturlaub, damit er zu Hause helfen konnte, die Kartoffeln zu pflanzen.

  • Als er am Morgen des 10. Mai 1940 durch das Brummen vieler Militärfahrzeuge geweckt, befand er sich hinter der Front - mit Uniform und Gewehr
    Was sollte er tun ?
        • an den deutschen Truppen vorbeilaufen nach dem Motto "Lasst mich mal durch, ich muss gegen euch kämpfen" ?
        • abwarten ?
  • Er wählte die zweite Option. Eine Woche später, am 18. Mai 1940, war er deutscher Staatsbürger. Hitler hatte die ostbelgischen Kreise Eupen-Malmedy annektiert.

  • Zwei Jahre später wurde er zur Wehrmacht eingezogen, hatte Glück, dass er zur Besatzungstruppe nach Norwegen kam und nicht nach Stalingrad wie viele seiner Kameraden.

Generation 2:  Soldaten für Belgien, dann Deutschland, belgischer Gefangener, belgischer Bürger

  • Kriegsende 1945, Überführung nach Brüssel als (erneut) belgischer Bürger, dort erst einmal inhaftiert

  • Nach der Überprüfung, ob er kollaboriert habe mit dem Feind folgte die Entlassung aus dem Gefängnis und Heimkehr ins Dorf.

  • Wiederaufbau, Respekt,  ja Angst vor dem neuen Vaterland, auch Misstrauen gegenüber allen Behörden, die einen mit dem Gefühl zurück ließen, dass man kein guter Belgier war, wenn man nicht französisch sprach. Von Liebe zum neuen "Vaterland" konnte nicht wirklich die Rede sein 

  • Die Forderung einiger mutiger Priester der Region nach Anerkennung der deutschen Sprache in Belgien (Harmel-Kommission)  wurde zwar begrüßt, aber hinter vorgehaltener Hand und mit einem gewissen Schuldgefühl. Schließlich war ja Deutsch die Sprache der Kriegstreiber und Judenmörder gewesen.

  • Fazit: nach den ersten wechselhaften 50 Jahren der Zugehörigkeit unserer Vorfahren zu Belgien war die Generation meiner Eltern noch nicht wirklich in Belgien zu Hause

... Generation 3:  Sprachengesetze, vom Einheitsstaat Belgien zum Bundesstaat 

  • Ich selbst, geboren 1951, glückliche Kindheit in bescheidenen Umständen, aber in Frieden und Geborgenheit des Dorfes, geführt von Eltern, Kirche und Schule, welche die gleichen Werte vertraten und  Hoffnung auf bessere Zeiten zuließen. 

  • Es gab zwar noch  gelegentliche Demütigungen als  "Bürger zweiter Klasse", schlimmstenfalls Beleidigungen  wie "Sâle boche !" ("Dreckiger Nazi")
    Das Gefühl, zu einer unerwünschten Minderheit zu gehören, war sporadisch noch vorhanden, wenn auch nicht mehr permanent.

  • Die Einteilung Belgiens in vier Sprachgebiete  (1963) und die verfassungsmäßige Anerkennung von Deutsch als dritte Landessprache (1970) läuteten definitiv die Wende ein. Es folgten sechs Staatsreformen, durch die wir Deutschsprachigen mehr und mehr Eigenverantwortung bekamen

  • Langsam erfuhren wir, die dritte Generation der Neubelgier, so etwas wie Respekt und Anerkennung. Meine Generation fühlte sich mehr und mehr als in Belgien angekommen und zu Hause
    Mit eigenem Parlament, eigener Regierung, Bürgerdialog, Bürgerrat ... haben wir die Möglichkeit, unser Leben mehr und mehr selbst zu gestalten.

Generation 4nach sechs Staatsreformen Alltag weitreichender Autonomie.

  • Meine Kinder , zwischen 1978 und 1984 geboren, sind in einem zunehmend respektierten Ostbelgien aufgewachsen, ohne Berührungsängste zu Flamen und Wallonen, selbstbewusst, offen.

  • Autonomie ist für diese Generation eine Selbstverständlichkeit geworden. Sie ist ganz einfach da. Es ist für diese Generation völlig normal, dass sehr vieles, was ihren Alltag betrifft, in Eupen entschieden wird und auf Deutsch mitgeteilt wird 
  • Die Anzahl der Zuständigkeiten von Parlament und Regierung ist ständig gewachsen (Bild links) 
  • Aber:  Jede Selbstverständlichkeit birgt die Gefahr, dass man glaubt, nichts mehr für für ihren Erhalt tun zu müssen. Wir stellen fest, 
      • dass die Bereitschaft, sich politisch und gesellschaftlich aktiv zu beteiligen, nachlässt
      • dass viele junge Menschen sehr großen Wert auf ihre persönliche "work-life-balance" legen und dass Ehrenamt und Gemeinwohl darunter zu leiden drohen
      • dass hoher Wohlstand und Social Media diese Entwicklung zu verstärken scheinen

Generation 5Viele Fragezeichen  ...

  • Für meine Enkel ist Autonomie und Deutsche Sprache einfach da, wie vom Himmel gefallen. Dass sie - wie die Demokratie allgemein - geschützt und ständig neu erarbeitet werden muss, scheint vielen von ihnen noch nicht recht bewusst.

  • Hinzu kommen globale und geopolitische Entwicklungen:
      • Was wird 2050 geopolitisch anders sein als jetzt ? Wird Europa  möglicherweise sehr geschwächt sein ?
      • Wie wird Künstliche Intelligenz (KI) das Leben und die Gesellschaft verändern ? Werden die freiheitlich-demokratischen Gesellschaften die Überflutung mit  Reizen, Deep Fakes (wie das KI-Bild von Trump inmitten junger Farbiger usw schadlos überstehen  ?
      • Werden nationale und globale Autokratien  den Schutz von Minderheiten möglicherweise aushebeln oder gar abschaffen ?

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